Sonntag, 9. Januar 2011

Marudhar Express

Viele der Zuege in Agra starten mit bis zu 20 Stunden Verspaetung und die verfuegbare Bodenflaeche der Bahnhofs- und Wartehallen ist gefuellt mit sich uebereinanderstapelnden Gliedern und Gepaeckstuecken. Die Kombination von Blockaden der Gleise wegen eines Streiks in Rajastan und anhaltendem Nebel machen Bahnreisen in diesen Tagen zu einer mehr als zaehen Angelegenheit. Neben uns wartet eine Gruppe indischer Schulmaedchen auf dem Boden liegend, unter einer Decke aneinandergekuschelt - sie singen, halten sich an den Haenden, erzaehlen lebhafte Geschichten. Als unser Zug mit (nur) drei Stunden Verspaetung einfaehrt, sind sie weiterharrend eingeschlafen, ein Gewirr an kleinen Koerpern, eine bunte Insel in der Mitte des Raums. Niemand hier murrt, verzieht das Gesicht - es ist, wie es ist.




Es ist Mitternacht, als wir unsere Liegen beziehen, ein Abteil mit sechs Klappbetten, jeweils drei uebereinander, durch einen Vorhang vom Gang getrennt - ich bin erschoepft, schlafe tief und wache erst irgendwann am Vormittag auf. Wir stehen am Feld vor einer Weiche (wie noch hunderte Male im Verlauf der Reise). Eigentlich sollten wir bald ankommen, aber noch nichtmal die Haelfte des Weges liegt hinter uns. Anfaengerfehler: Wir haben keinen Proviant eingepackt, also uebe ich mich im Bahnhofsshopping. Bei einem Stopp aussteigen, durch das Gewimmel kaempfen, Bananen, Kekse, Wassser kaufen, immer mit einem Blick beim Zug, der irgendwann langsam weiterrollt. Die Tueren schliessen nicht wie bei uns, es geht im Schritt-Tempo ohne Warnung los, und alle die ausgestiegen sind, um zu rauchen oder einzukaufen, springen ohne Hast auf, waehrend sich die Teeverkaeufer an ihnen vorbei wieder nach draussen draengen.


Der Kontrast zwischen dem Tumult in den Stationen und der stoischen Gelassenheit in unserem fahrenden Heim ist ueberwaeltigend. Draussen seint ein ganzer Kontinent zu rasen, zu toben, zu kaempfen, waehrend hier drin fast meditative Ruhe herrscht. Unsere Mitreisenden uebersetzen Zwischeninformationen fuer uns, bieten ihr Haus, ihre Kopfschmerztabletten und ihre Mobiltelefone an. Neben all dieser Freundlichkeit, die wir erfahren, sind wir auf der Hut - nie sind wir ganz sicher, wann wir hereingelegt werden und bereits jetzt haben wir unser Lehrgeld bezahlt, bei Haendlern, Taxifahrern, Buchungsvermittlungen.

Nach 21 Stunden erreichen wir Varanasi, die heiligste Stadt der Hindus - es ist Nacht geworden und die Stimmung am Bahnhof ist wie in einem Endzeitfilm. Alles ist in tiefen Nebelschwaden versunken, Menschen in Lumpen gehuellt kauern am Boden, wir werden verfolgt, belauert, bedraengt. Ich stolpere fast ueber einen Sadhu, der seinen Dreizack in die Hoehe streckt und mich zahnlos anfletscht, und alles in mir ist angespannt. Wir haben kein Quartier gebucht, also folgen wir einem der zahlreichen Fahrer und geben eine Adresse am Ganges an, bei der wir Unterkunft finden wollen. Dieser Teil der Stadt ist fast ausgestorben, am Strassenrand lungern Hunde, ein paar kleine Feuer am Boden, um die sich zwei, drei Gestalten scharen und Kuehe queren unseren Weg. Wir muessen zu Fuss weiter, weil die Strasse zum Fluss gesperrt ist und geben letztendlich einem der Keiler nach und lassen uns zu seinem Guesthouse bringen. Es ist eine Absteige. Egal.

Wir werfen unser Gepaeck ins Zimmer und gehen nochmal raus, mit Muehe koennen wir in einem Hotel den Koch bestechen, uns noch ein Essen zu kochen. Am Rueckweg verlaufen wir uns in dem Gassengewirr und es soll ein langer, unheimlicher Weg zurueck werden.

Ich kann das Elend und die Armut nur schwer ertragen, an jeder Ecke springt sie uns an, ist zu riechen, zu hoeren, zu fuehlen. Dennoch bin ich in seltsamer Hochstimmung - Agra war zu organisiert, der Fahrer, der fuer uns das Denken uebernehmen wollte, ein Guide - und meine Stimmung war gereizt ob dieser Bevormundung. Hier, in diesem apokalyptischen Szenario finde ich ploetzlich Ruhe, fuehle mich auf Reise, frei.

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